Die ungebuehrlichen Gedanken des Semjon Petrovitsch Kovbassa
Ludmilla Kulikova
Semjon Petrovitsch Kovbassa, ordentlicher Professor der chinesischen Literatur, liebte Geraeusche, war ergriffen von den Rhythmen der Poesie und ihrer Melodie. Abends, hinter den fest verschlossenen Tueren seines Arbeitszimmers, rezitierte er Gedichte, laut und voller Hingabe, wobei er mit feinem Ohr jede Vibration wahrnahm. Diese leidenschaftliche Begeisterung hatte er schon in der Kindheit entwickelt, mit den Jahren wurde sie jedoch subtiler: er labte sich nicht mehr nur am Rhythmus der Gedichte, sondern auch am Klang der fremden Sprache. Mit anderen Worten, er war ein durch und durch musikalischer und musischer Mensch, der im Klang der Worte und dem Rhythmus einer Sprache geradezu wie ein Fisch im Wasser schwamm. Er traeumte davon, mehrere Sprachen zu beherrschen, um ohne zu ermueden die wundervollen Lautkombinationen genieNo?en zu koennen. Als er sein Studium antrat, waehlte er wie selbstverstaendlich Chinesisch, weil diese Sprache so melodisch klang.
Semjon Petrovitsch war ohne Zweifel gluecklich verheiratet. Sein halbwuechsiger Sohn festigte die Ehe und unterstrich die Sinnhaftigkeit des Familienlebens. Seine Ehefrau, Tatjana Ivanovna, hatte den Namen Kovbassa vor der Heirat kategorisch abgelehnt und ihren Maedchennamen, Dynja, behalten. Es war Semjon Petrovitsch in hoechstem Massen unangenehm, dass seine Frau von seinem Namen Abstand nahm. Er selbst hatte sich derartig daran gewoehnt, dass er ihn als eine ungewoehnliche Lautkombination wahrnahm: Kov-bassa. Genau so stellte er sich auch anderen Personen vor:
"Sem-jon Petro-vitsch Kov-bassa."
Die Sprach-Studenten gaben ihm bald den Spitznamen "Koi-bass", was in der uebersetzung aus dem Kasachischen so viel wie "gekochter Schafskopf" bedeutete. Schon in der Schule hatte man ihn gehaenselt und ihn "Kol-basa": "Wurst-scheibe" genannt. Der kleine Semjon war naemlich rund und speckig gewesen.
Als der Sohn geboren wurde, konnten sich die jungen Eltern lange nicht entscheiden, unter welchem Nachnamen ihr Neugeborenes registriert werden sollte. Sie durchforsteten die Ahnentafeln, doch ein Name war laecherlicher als der andere. Man einigte sich auf den, nach Einschaetzungen des Familienoberhaupts, klangvollsten Namen. Nur durch diffizile Bestechungen konnte in der Geburtsurkunde folgender Eintrag vorgenommen werden: Nikolaj Semjonovitsch Kukareka. Diesen ruhmreichen Namen verdankte er einem Onkel Tatjana Ivanovnas, muetterlicherseits. Sein Vater lieNo? sich den Namen immer wieder auf der Zunge zergehen: Ni-ko-laj Sem-jo-no-vitsch Ku-ka-re-ka.
Also lebten Dynja und Kovbassa mit Sohn Kukareka zusammen.
Als Eheleute fuehrten die beiden ein biederes Leben. Ein Intimleben war ihnen fremd. Jeder hatte dafuer seine eigenen hundert Gruende. Sie ehrten einander, aber die Zaertlichkeit war fuer sie fremd gewesen. Jedem Familienmitglied stand Autonomie zu. Jeder hatte seinen Aufgabenbereich. Tatjana Ivanovna war fuer den gedeckten Tisch, die saubere Waesche und die Noten des Sohnes zustaendig, Semjon Petrowitsch sah sich fuer die bildende und aufklaererische Arbeit am Sproessling verantwortlich und nahm, so es die Zeit und Kraft zulieNo?en, einige der Maennerarbeiten im Haushalt wahr. Die restliche Zeit bereitete er sich auf seine Vorlesungen vor, verlas sie dem studentischen Auditorium und tauchte von Zeit zu Zeit in die Welt der ihm so lieben Laute ein:
Ke lu qing shan wai
Xing zhou l; shui qian
Hu ping liang an kuo
Feng zheng yi fan xuan
Hai ri sheng can ye
Jiang chun ru jiu nian
Xiang shu he chu da
Gui yan luo yang bian*
Es schien, dass nichts die Bestaendigkeit des Lebens dieses eigenwilligen Buendnisses stoeren koennte. Doch es war einmal...
In der Nachbarswohnung wechselten sich die Anwohner. Anstatt der jungen Familie mit zwei Kindern mietete sich eine junge Frau mit Fluegel ein. Der Fluegel schien lauter als die Kinder. Von nun an zog sich Semjon Petrowitsch, der das Haus stets als letzter verlieNo?, von klassischer Musik begleitet den Mantel und die Schuhe ueber. Er verschloss die Eingangstuer, stieg die Treppe hinab waehrend hinter ihm die betoerende Melodie der Mondscheinsonate wie Sirenenmusik nachklang.
Semjon Petrowitsch kehrte als erster heim, und wieder klang aus der Nachbarwohnung Musik. Schon bald bemerkte er an sich eine Art Spaltung. Sein Koerper befand sich in der eigenen Wohnung, etwas anderes aber, noch Unentwickeltem, befand sich dort, wo die melodischen Klaenge herraehrten. Er wurde nachdenklich und schweigsam. Nicht laenger regte sich in ihm der Wunsch, chinesische Lyrik zu genieNo?en. Er verstand sich selbst nicht mehr, weswegen er sehr betruebt war.
Einmal, als er von der Vorlesung nach Hause kam, traf Semjon Petrowitsch seine neue Nachbarin im Treppenhaus. Sie war gerade aus der Tuer getreten und befand sich auf dem Weg zum Briefkasten. Semjon Petrowitsch erschauderte, nachdem der das Maedchen angesehen hatte, so unerwartet traf ihn die Begegnung. Er stutzte und seufzte: "Wie wundersch?Ёn ist sie!" Das Maedchen laechelte freundlich und grueNo?te ihn sehr hoeflich: "Seien sie gegrueNo?t, Semjon Petrowitsch."
Diese Begegnung brach die ohnehin schon umgestimmten Gefuehle des Professors Kovbassas gaenzlich. Ob nun die Musik den Zusammenbruch vorbereitet hatte oder die blendende Schoenheit des Maedchens das Ihre getan hatte, Semjon Petrovitsch begann, in sich ungeahnte Stroemungen zu fuehlen. Sie trugen einen wellenfoermigen Charakter und breiteten sich ausschlieNo?lich im unteren Bereich des Koerpers aus. Waehrend der obere Teil noch in luftigen Hoehen schwebte, begann der untere sich mit enormer Geschwindigkeit zu veraendern. Eines Morgens erwachte Semjon Petrowitsch mit einem Gefuehl des Unbehagens, lief beschaemt ins Bad und versuchte, diesen eigenmaechtigen Koerperteil zu missachten. Als er nach einer halben Stunde wieder herauskam, sah er gleichzeitig beschaemt als auch erleichtert aus. Rasch machte er sich Fruehstueck und eilte zur Arbeit. Die Musik aber verstummte nicht.
Semjon Petrovitsch ekelte vor sich selbst. Nicht genug damit, dass er sich mit seinem Koerper herum zu quaelen begann, auch sein Intellekt schrumpfte. In seinen Vorlesungen gab es Aussetzer, beim Erzaehlen verlor er den Faden, unkonzentriert benotete er die Studenten oder hielt die Pruefungen ab und konnte der Essenz der Antworten nicht mehr folgen. Um keine Blamage zu erleben, verteilte er allen Studenten flaechendeckend "sehr gut". Die Dozentenkollegen schuettelten hinter seinem Ruecken die Koepfe. Der Professor jedoch bekam ueberhaupt nichts mit. Er litt unter dem ueberschwall ihm fremder Gefuehle und Fantasien. Groteske Gestalten bedraengten ungefragt seinen wirren Kopf.
Er versuchte wieder, sich in der liebreizenden hieroglyphischen Poesie zu vergraben, las die Gedichte mit bewegenden Lippen, dann blieb bei jedem Wort haengen, doch anstatt seiner geliebten Laute, vernahmen die Ohren nur obszoene Worte und sein inneres Auge stellte einen groNo?formatigen Bildschirm zur Verfuegung auf dem er entkleidete Nymphen sah. Semjon Petrovitsch schuettelte den Kopf, in der Hoffnung, die Visionen zu vertreiben, doch davon konnte keine Rede sein! Sie beherrschten ihn, verzauberten und erregten ihn so sehr, dass er erneut Hals ueber Kopf ins Badezimmer lief, sich einschloss, nach einer geraumen Zeit schuldbewusst durch den Spalt der halb geoeffneten Tuer spaehte und dann in sein Arbeitszimmer verschwand.
Das erstaunliche war, dass weder Tatjana Ivanovna noch ihr Sohn Kolja Veraenderungen am Familienoberhaupt festgestellt hatten. Semjon Petrovitsch tat furchtbar beschaeftigt, zeigte sich kaum auNo?erhalb des Arbeitszimmers, sodass die Hausbewohner es nicht wagten, ihn zu stoeren. Semjon Petrowitsch begehrte. Genauer gesagt, ihn hat die Lust ueberwaeltigt. In irgendeinem Winkel seines Bewusstseins schaemte er sich unendlich, doch er konnte das verteufelte Fleisch nicht bekaempfen. Es war eine unangenehme Epoche im Leben des Professors Kovbassa. Nie zuvor war er so tief gesunken. An einem dieser quaelenden Tage traf der Schimmer eines hellen Gedankens auf den dumpfen Schaedel des Leidenden. Ohne Zeit verstreichen zu lassen schritt er zur Tat, in der Sorge, diesen treffenden Gedanken zu verscheuchen. Er durchsuchte das Telefonbuch, fand die ersehnte Nummer und drueckte die Tasten. "Hallo, Nikolai Lvovitsch?...Guten Tag! Hier ist ihr Nachbar, Semjon Petrovitsch...Ja, gut, gut geht's. Und ihnen? ... Hmja... Nikolaj Lvovitsch, mein Lieber, ich rufe sie wegen einer Sache an. Bei ihnen wohnt ein Maedchen, ihre Mieterin...also, ich wollte sagen...Wissen sie, es ist rettungslos! Sie bringt her, wen sie will! Tag und Nacht! Einfach ein Skandal! Es ist beschaemend, wissen sie, vor meiner Frau und dem Kind... Ja, ja, genau!... Und nachts sowieso! Man kann ueberhaupt nicht schlafen. Man hoert einfach alles! Ja, ja, eben, genau... Musik? Nein, die Musik stoert nicht... Also bitte, leiten sie MaNo?nahmen ein?... Aha, aha! Ja, ich habe verstanden. Also, ihnen Alles Gute!"
* Ein Gedicht des chinesischen Dichters Van Van.
Honigmelone, Anm. d. autoer
"Kolbasa" - Wurst, Wortspiel; muendlich Kovbasa genannt.